Derzeit ist noch kein Wolf dauerhaft im Nationalpark präsent. Erfahrungen aus anderen Gebieten des Alpenbogens und die derzeitige Phase der starken Ausbreitung des Wolfs lassen aber vermuten, dass es bald eine spontane Rückkehr des Tieres in den Nationalpark Stilfserjoch geben könnte, auch dank des Überflusses an Beutetieren im Park. Diese Situation macht aus dem Nationalpark Stilfserjoch ein optimales Langzeit-Untersuchungsgebiet, indem die möglichen Folgen einer spontanen Rückkehr des Wolfs auf die Umwelt und andere Tierarten erforscht werden können. 2019 wurde im lombardischen Teil des Nationalparks, in Zusammenarbeit mit der Universität Siena und der Edmund-Mach-Stiftung, ein Projekt zur langfristigen Untersuchung der Auswirkungen auf Ökosysteme durch den Wolf gestartet. In der ersten Projektphase werden Basisdaten zu verschiedenen Aspekten der Ökologie und des Verhaltens von Tierarten sowie anderen Ökosystemkomponenten gesammelt, damit in Zukunft, nach der Rückkehr des Großraubtiers, die Entwicklung wichtiger biologischer/ökologischer Parameter überwacht werden kann.
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Studien:
- Auswertung der räumlichen Verteilung und der zeitlichen Aktivitätsrhythmen des Hirsches (am weitesten verbreitetes Huftier im Park), bei Abwesenheit des Wolfes.
Verwendet werden dazu Fotofallen, die gleichmäßig im Untersuchungsgebiet verteilt sind. Im Jahr 2019 wurden 28.051 Fotos von Tierarten aufgenommen und archiviert: Darunter war der Hirsch mit über 12.000 Bildern die meistfotografierte Tierart, gefolgt von Gämse, Steinbock, Reh, Fuchs, Eichhörnchen, Murmeltier und Tannenhäher.
Die Untersuchung der Daten zeigte viele Nutzungsaspekte des Territoriums durch das Rotwild (die häufigste Huftierart im Nationalpark): eine Nettoabnahme der Hirsche in offenen Gebieten während des Tages im Vergleich zur Nacht, die Zunahme der Hirsche in höheren Lagen in den warmen Monaten, die Zunahme der Hirsche mit zunehmender Entfernung von Siedlungsgebieten während des Tages im Gegensatz zur Nacht, während der die Anzahl, unabhängig von der Entfernung von anthropisierten Gebieten konstant bleibt. Außerdem konnte der Aktivitätsrhythmus des Hirsches festgestellt werden. Es gibt zwei Spitzen mit erhöhter Aktivität in der Morgen- und Abenddämmerung und eine geringere Aktivität in den mittleren Stunden des Tages. Diese vorläufigen Ergebnisse zeigen bereits das Potenzial von Fotofallen zur Untersuchung von Variationen im räumlichen Verhalten und der Aktivitätsrhythmen auch bei Präsenz des Wolfes..
Hirsche könnten z. B. verstärkt geschlossene, bewaldete Gebiete nutzen oder sich allmählich Siedlungsgebieten nähern, um das Risiko zu verringern, erbeutet zu werden. Auch die zeitlichen Aktivitätsrhythmen könnten sich verändern.
Nahrungsketten stellen die Gesamtheit der Beziehungen dar, die zwischen Organismen in einem Ökosystem bestehen. Die Basis der Kette wird durch die Produzenten (autotrophen Organismen, die Chlorophyll-Photosynthese durchführen können) repräsentiert. Der Rest der Kette wird durch die Konsumenten repräsentiert, von denen jeder einer trophischen Ebene angehört: Primärkonsumenten - Pflanzenfresser, Sekundärkonsumenten - Fleischfresser, die Pflanzenfresser fressen, und schließlich, an der Spitze der Kette, gibt es die Tertiärkonsumenten, die Super-Karnivoren. Die Beziehungen im Ökosystem sind komplex, daher kann eine Art zu mehr als einer Kette gehören, deshalb spricht man von Nahrungsnetzen (trophische Netze).
Die verschiedenen trophischen Ebenen sind miteinander verbunden, die Veränderung in einem der Glieder (trophischen Ebenen) kann Auswirkungen auf den Rest der Kette, auf alle trophischen Ebenen haben.
Eine trophische Kaskade ist eine Veränderung an der Spitze der trophischen Pyramide, die einen "Domino-Effekt" auf allen darunter liegenden Ebenen erzeugt. Dies geschah beispielsweise im Yellowstone-Nationalpark (USA) nach der Wiederansiedlung des Wolfes im Jahr 1995.
Im Nationalpark Stilfserjoch könnte ein ähnliches Szenario eintreten. Das Auftreten des Großraubtiers könnte sich nicht nur direkt auf potenzielle Beutetiere wie Hirsche auswirken, sondern auch indirekt auf die übrigen Ökosystemkomponenten. Zum Beispiel könnte die Verdrängung von Hirschen aus Weidegebieten in Waldgebiete zu einem Wachstum der zuvor kargen Vegetation führen, wodurch geeigneter Lebensraum für Vögel geschaffen und die Bestandesstabilisierung begünstigt wird; die Aufgabe einiger Gebiete könnte die Verbreitung anderer Huftiere, wie z.B. Gämsen, begünstigen, die potenziell mit Hirschen konkurrieren. Von Wölfen zurückgelassene Kadaver könnten die Präsenz aasfressender Arten begünstigen.
- Auswertung der Verwendung von Nahrungsressourcen durch den Fuchs
Ziel dieser Untersuchung ist es vor allem, mögliche nachträgliche Veränderungen in der Ernährung des Fuchses in Abhängigkeit der Präsenz des Wolfes zu definieren. Insbesondere sollen zwei mögliche Hypothesen überprüft werden:
1) Der Fuchs nutzt die Kadaver, der vom Wolf getöteten Beutetiere: in diesem Fall sollte es nach der Rückkehr des Großraubtiers zu einem Anstieg der Nutzungshäufigkeit von großen Säugetieren durch den Fuchs kommen;
2) Der Fuchs vermeidet den Kontakt mit dem Wolf, um das Risiko einer interspezifischen Störung zu verringern. Indem er den Verzehr von großen Säugetieren reduziert, wird die Wahrscheinlichkeit auf den überlegenen Konkurrenten zu treffen, verringert.
Die Bewertung der Nutzung von Nahrungsressourcen durch den Fuchs bei Abwesenheit des Wolfes erfolgt durch die Analyse und Identifizierung des Inhalts von Kotproben. Am Institut für Biowissenschaften der Universität Siena werden unverdauten Bestandteile wie Haare, Federn, Knochen, Insektenexoskelette und Samen, zur Identifizierung der Nahrungskomponenten, analysiert. Säugetiere werden durch makroskopische und mikroskopische Analyse der Haare identifiziert, die mit Referenzsammlungen und Fotoatlanten verglichen werden.