Gletscher
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Die Gletscher im Nationalpark Stilfserjoch

Die Gletscher sind charakterisierende Landschaftselemente des Nationalparks Stilfserjoch

In seinem Höhentransekt erstreckt sich der Nationalpark Stilfserjoch von der montanen Fichtenwaldstufe auf 690 m MH in der Vinschgauer Talsohle bis auf 3.900 Meter am Gipfel des Ortlers. Gletscher gehören daher zu den prägenden und charakteristischen Landschaftselementen in den oberen Höhenstufen des Nationalparks. Das Herzstück des Nationalparks Stilfserjoch sind die Berge der Ortler-Cevedale-Gruppe. Dieser Gebirgsstock bildet mit seinen 54 Gletschern und einer Gesamteisfläche von 34,92 km² die derzeit am stärksten vergletscherte Berggruppe in Südtirol.  



Wie Gletscher entstehen

Gletscher entstehen, wenn sich Schnee im Hochgebirge bei kalten Temperaturen in jahrelang andauernden Prozessen über Firn zu Eis verdichtet. Dabei nimmt die Dichte zu und der Luftgehalt ab:

Eisform

Schnee

Firn

Firneis

Gletschereis

Dichte

0,05-0,1

0,5

0,7

0,9

Luftgehalt in %

90

80

40

2


Gletscher haben ein Nährgebiet oder Akkumulationsgebiet und ein Zehrgebiet oder Ablationsgebiet. Durch jeden Gebirgsgletscher verläuft quer zu seiner Gletscherzunge eine gedachte horizontale Linie, die man Nulllinie oder Schneegrenze nennt. Bergseits dieser Linie liegt das Nährgebiet, auch Ablagerungsgebiet genannt. Hier fällt mehr Schnee als abschmilzt. Die Massenbilanz ist im Nährgebiet positiv. Unterhalb der Nulllinie liegt das Zehr- oder Abschmelzgebiet.  In diesem Gletscherbereich schmilzt der Schnee, hier schwindet der Gletscher, seine Massenbilanz ist hier negativ. Mit zunehmender Erhöhung der Jahresdurchschnittstemperatur der Luft rückt die Nulllinie auf den Gletschern immer weiter nach oben, das Nährgebiet wird kleiner, das Zehrgebiet größer. Die Gletscher schwitzen, leiden und schwinden. Ihre Gesamtmassenbilanz ist in den letzten Jahren stark negativ. Sogenannte „schwarze“ Gletscher sind geröllüberschüttete Gletscher. Sie schmelzen noch schneller ab als weiße Gletscher. Dunkles Gestein absorbiert mehr Sonnenstrahlung und leitet die Wärme daraus an das Eis ab.

Die Ausdehnung der Gletscher im Alpenbogen

Im Jahre 1850 betrug die Vergletscherung des Alpenbogens laut Weltgletscherreport (World Glacier Monitoring Service WMGS) 4.460 km², im Jahre 2012 hingegen 2.153 km². Damit beträgt die vergletscherte Fläche von 2012 nur noch 48%, also weniger als die Hälfte des Gletscherstandes von 1850. Der Gletscherschwund ist in unseren Klimazonen der auffälligste Indikator für den Klimawandel. Von den 284 in den Alpenstaaten Frankreich, Schweiz, Österreich und Italien seit 1995 untersuchten Gletschern haben sich 273 zurückgezogen.


Die Gletscher im Nationalpark

Im Nationalpark Stilfserjoch gab es 2003 150 Gletscher mit einer Gesamtfläche von 11.011 Hektar und einem gespeicherten Volumen von 3 Milliarden m³ Wasseräquivalenten (Pirovano C., Moriconi L., Barcella M., Bonardi L., Galluccio A.: Relazione sullo stato dell'ambiente, Progetto Agenda 21 locale nel Parco Nazionale dello Stelvio). Thomas Schellenberg vom Institut für Fernerkundung an der EURAC Bozen gibt die Flächenausdehnung der Gletscher im Ortler-Cevedale-Massiv für 1987 mit 85,3 km², für 1999 mit 74,9 km² und für 2010 mit 60,2 km² an.


Gletscher in Zeiten des Klimawandels

Das Erdklima verändert sich infolge der Erwärmung unseres Planeten. Diese Erwärmung ist eine Folge des Treibhauseffektes. Der natürliche Treibhauseffekt der Erdatmosphäre wird von uns Menschen mit vielen Aktivitäten verstärkt. Die Erderwärmung hat ihre Ursache in der Zunahme des Kohlendioxyds in der Erdatmosphäre. Kohlendioxyd ist ein Treibhausgas. Sein Anteil in der Luft ist von 290 pars per million vor hundert Jahren auf derzeit 389 ppm angestiegen, Tendenz steigend. Die Erde hat sich in den letzten 100 Jahren um 0,8°C aufgewärmt. Die Alpen sind im weltweiten Vergleich besonders stark von der Erwärmung betroffen: Der Anstieg der Lufttemperatur war mit fast zwei Grad Celsius doppelt so hoch wie im umliegenden Flachland. Durch den menschgemachten Klimawandel häufen sich die warmen Jahre. Systematische Aufzeichnungen der Lufttemperatur gibt es seit 140 Jahren. Die Jahre 2015 bis 2018 sind die vier wärmsten seit Beginn der Messungen. Alle zwanzig wärmsten Jahre traten seit 1996 auf.

Die Gletscher sind wertvolle Wasserspeicher

Der Gletscherschwund ist in unseren Alpen ein sehr auffälliges Anzeichen für den Klimawandel. Die Gletscher sind wichtige Speicher für Süßwasser. Im Vinschgau als einem inneralpinen Trockental kommt den Gletschern als Wasserreservoir besonders auch für die Bewässerung der landwirtschaftlichen Kulturflächen eine enorme Bedeutung zu.


Die Gletscher sind paläoklimatische Archive  

Gletscher sind auch aussagekräftige paläoklimatische Archive. Die im Gletschereis gespeicherten Informationen zu Klima- und Florengeschichte beispielsweise gehen verloren, wenn das Eis abschmilzt. Unter der Koordination von Prof. Lonnie Thompson von der State Ohio University werden daher seit Jahren weltweit Bohrkerne von den Gletschern der höchsten Inlandberge entnommen.


Die Eiskernbohrung am Ortler vom September 2011

Im September 2011 wurde im Rahmen des internationalen und interdisziplinären Projektes „Ortler Ice Core“ auch die Eiskalotte des Ortler-Gletschers bebohrt. Auf 3.850 Metern Meereshöhe wurden knapp unterhalb des Gipfels vier Bohrkerne mit einem Durchmesser von 10 cm entnommen. Die Bohrungen haben eine Eismächtigkeit von 76 m bis zum Felsuntergrund ergeben.


Warum gerade Eisbohrungen am Ortler?

Der Ortler türmt sich im niederschlagsarmen Vinschgau als einem inneralpinen Trockental zu einem der höchsten Berge der Ostalpen auf. Bei geringen jährlichen Niederschlagssummen braucht es einen langen Zeitraum, bis sich aus den geringen Schneeauflagen über Firnbildung ein Eispanzer von vielen Metern Mächtigkeit aufbaut. Es konnte daher als Arbeitshypothese angenommen werden, dass die untersten Eisschichten am Ortler-Gletscher ein sehr hohes Alter aufweisen würden.

Welche Temperaturen herrschen im Ortler-Eis?

In den oberen dreißig Metern hatte das Eis eine Temperatur von + 0°C, lag also beim Schmelzpunkt des Eises bzw. Gefrierpunkt des Wassers. In den unteren Eisschichten von 30 bis 70 m Tiefe nahm die Temperatur mit der Tiefe von -0,5 bis -3,5°C ab. Die höhere Eistemperatur in den oberflächennahen Schichten und die tiefere Temperatur in den unteren Schichten ist zunächst überraschend, hat aber eine einsichtige Erklärung in der Klimaänderung in den letzten 100 Jahren von 1911 – 2011. Aus der Auswertung der erhobenen Lufttemperaturen von umliegenden meteorologischen Messstationen in großer Höhenlage wissen wir, dass die Jahresdurchschnittstemperatur der Luft in 3.500 m MH über einen längeren Zeitraum -4°C betragen hatte. Im kurzen Zeitraum der letzten 30 Jahre von 1980 bis 2010 ist der Jahresmittelwert der Lufttemperatur in 3.500 m Höhe recht dramatisch um 2°C auf nur mehr -2°C angestiegen. Diese Erhöhung der Lufttemperatur hat auch zu einer Erwärmung des Eises in seien oberen Schichten bis in die Nähe seiner Schmelztemperatur geführt. Noch wirken diese oberen Eisschichten auch am Eispanzer des Ortlers als Isolator, welcher das Eindringen der Wärme aus der angestiegenen Lufttemperatur in tiefere Eisschichten verzögert. Modellrechnungen des Trentiner Glaziologen Paolo Gabrielli haben ergeben, dass die Eistemperaturen auch in den tieferen Schichten des Ortler-Eises im Zeitraum 2020-2050 um 1,8°C ansteigen werden. Damit wird sich der Ortler-Gletscher in einen sogenannten „gesamttemperierten“ Gletscher umwandeln. Wenn das Schmelzwasser des bereits heute in den oberen 30 m temperierten Eises das Grundeis am Ortler erreichen wird, wird dieses Wasser wie ein Gleitmittel wirken und zum Beispiel die Fließgeschwindigkeit des Gletschers beschleunigen: Die Häufigkeit und die Mächtigkeit von Eisbrüchen an der Stirnseite des Gletschers werden zunehmen. Und der Abschmelzprozess des Eises wird nicht nur von oben, sondern auch von unten beschleunigt.

Das Alter des Ortler-Eises

Die Eiskernbohrung am Ortler hat zunächst einen weltweiten Trend der Ablagerung radioaktiver Substanzen bestätigt: Alle Gletscher unserer Erde weisen in den Eisschichten, welche in den Jahren zwischen 1956 und 1963 entstanden sind, eine erhöhte Radioaktivität auf. In dieser Zeitspanne haben verschiedene Länder ihre Atomtests überirdisch in der Erdatmosphäre ausgeführt. Dies hatte eine weltweite Fernverfrachtung radioaktiver Teilchen und deren Ablagerung auch im Eis der Gletscher zur Folge.  Auch für den Ortler-Gletscher war in den Laboruntersuchungen eine erhöhte Tritium-Radioaktivität in einer Tiefe zwischen 40 und 45 m nachweisbar. Daraus kann abgeleitet werden, dass die obersten 40-45 Meter Eis am Ortler in den letzten 50-60 Jahren entstanden sind.

Zur Altersdatierung des Grundeises kann hingegen eine Nadel einer Lärche (Larix decidua) herangezogen werden, die in einem der Bohrkerne in 72 m Tiefe eingeschlossen war. Deren organisches Baumaterial hat eine Altersbestimmung mit der sogenannten Kohlenstoff-14-Methode zugelassen. Das Grundeis des Ortlers ist 2.650 Jahre alt und somit in der archäologischen Zeitleiste in der Eisenzeit einzuordnen.


 Das neue Gletscherkataster Italiens von 2015

Italien hat eine lange Tradition in der Erhebung der Gletscher. Das Gletscherinventar von Carlo Porro aus dem Jahr 1925 ist eines der weltweit ältesten. Im Jahr 2015 haben Claudio Smiraglia und Guglielmina Diolaiuti von der Universität Mailand das neue Kataster über die Gletscher Italiens publiziert. Es erfasst insgesamt 903 Gletscher. Mit einer Gesamtausdehnung von 369,90 km² macht die Fläche der italienischen Gletscher ca. 1/5 der Gletscherfläche des gesamten Alpenbogens aus. F. Paul, H. Frey, R. Le Bris geben in ihrem 2011 publizierten Gletscherinventar für die Alpen eine Gesamtzahl von 3.770 Gletschern und eine Gesamtgletscherfläche in den Alpen von 2.050 km² an.

Text: Wolfgang Platter, 12.12.2019

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