Warum im Nationalpark Stilfserjoch Hirsche geschossen werden
448b3

Warum im Nationalpark Stilfserjoch Hirsche geschossen werden

Gemeinhin ist für den Betrachter das Begriffspaar „Nationalpark“ und „Abschuss von Hirschen“ unvereinbar, weil in Nationalparken das Töten von Wildtieren per Gesetz grundsätzlich untersagt ist. Warum im Nationalpark Stilfserjoch trotzdem Rotwild entnommen wird, soll in diesem Beitrag erläutert werden. Die kürzest mögliche Antwort gleich vorweg: Weil die Dichte des Rotwildes zu hoch ist. Verbiss-Schäden am Wald und an den landwirtschaftlichen Kulturen sind die Folge. Und die Dominanz des Hirsches geht zu Lasten etwa des Rehes, aber auch anderer Tierarten.
Rechtsnorm
Das staatliche Rahmengesetz über die geschützten Gebiete Nr. 394/1991 verbietet im Artikel 11 „Fang, Tötung, Schädigung und Störung von Wildtieren“ in Schutzgebieten mit der Klassifizierung Nationalpark und damit auch die Jagd. Im Gesetz sind zwei Ausnahmen vorgesehen, von denen weiter unten die Rede sein wird.

Der Rothirsch (Cervus elaphus) in seiner Bestandsentwicklung im Nationalpark Stilfserjoch
Derzeit gibt es im Gebiet des Nationalparks Stilfserjoch und in den umliegenden Tälern ca. 10.000 Stück Rotwild. Dies war nicht immer so. Der Rothirsch war zwar immer schon in den Alpen vertreten, verschwand aber in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem derzeitigen Gebiet des Nationalparks Stilfserjoch durch den Druck des Menschen.
Zum Schutz des Rotwildes hat die Gründung des Nationalparks Schweiz beigetragen, welche in das Jahr 1914 fällt. Der Schweizer Nationalpark war Ausgangspunkt für die Besiedlung der angrenzenden Gebiete. Im Obervinschgau war der Rothirsch um 1860 erloschen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wechselten die ersten Exemplare aus dem Schweizer Nationalpark in das Gebiet zwischen Taufers und Glurns. Die Dichten blieben aber gering. Erst ab den 1950er und stärker ab den 1960er Jahren nahm die Zahl der Rothirsche deutlich zu.
Seit 1973 werden im gesamten Nationalpark Stilfserjoch mit seinen Länderanteilen in der Lombardei, im Trentino und in Südtirol vom Aufsichtspersonal Zählungen durchgeführt, so dass die Verwaltung des Parks über eine lange Datenreihe zur Einschätzung der Bestandsentwicklung verfügt. Die Zählungen wurden und werden im Frühjahr nach einer standardisierten Methode als Nachttaxationen mit Scheinwerfern mit zweimaliger Wiederholung durchgeführt. Aus der Erfassung markierter Tiere mit gut sichtbaren Ohrmarken wissen wir, dass die direkten Zählungen den Bestand zwischen 32-48% unterschätzen. Seit den 1990er Jahren wurden Rothirsche dann auch mit Halsbandsendern ausgestattet, so dass auch gute und verlässliche Aussagen zur Raumnutzung, zur Verteilung und zum Wanderverhalten dieser Huftierart möglich sind. In den 1970er und 1980er Jahren stieg die Dichte des Rotwildes im Vinschgauer Gebiet des Nationalparks Stilfserjoch auf sehr hohe Dichten, so dass die staatliche Forst- und Domänenverwaltung ASFD (Azienda Statale Foreste Demaniali) als damalige Verwalterin des Nationalparks jährlich eine bestimmte Anzahl von Rothirschen und Rehen zum Abschuss durch die lokale Jägerschaft freigegeben hat.
Jagdverbot nach Gerichtsurteil
Auf Rekurs der Artenschutzorganisation WWF Italien erging 1983 ein Urteil des Staatsrates, mit welchem die Jagd auch auf diese beiden Huftier-Arten im Sinne des gesetzlichen Verbotes zur Störung, Entfernung und Tötung von Wildtieren in Nationalparken untersagt wurde. Dem Gerichtsurteil wurde seitens der Parkverantwortlichen natürlich Folge geleistet.

Hohe Rotwilddichte führt zu Verbiss-Schäden
In der Folge wuchs der Bestand des Rotwildes innerhalb des Nationalparkgebietes weiter und kontinuierlich auf sehr hohe Dichten an. Verbiss-Schäden am Bergwald und an den landwirtschaftlichen Kulturen waren die Folge. Auch die soziale Akzeptanz des Nationalparks schwand ob der massiven Schäden in der Landwirtschaft besonders im Bauernstand. Einzeleinzäunungen von landwirtschaftlichen Kulturflächen, besonders der Sonderkulturen mit Obst, Gemüse und Beerenfrüchten waren im Vinschgau eine Reaktion auf die hohe Rotwilddichte. Zusätzlich wurden durch Gebietswildzäune an der unteren Grenze des Waldes zu den landwirtschaftlich genutzten Flächen hin die Kulturpflanzen geschützt, aber auch der Wechsel des Rotwildes von den Sommereinständen am schattseitigen Nörderberg durch die Talsohle an den Sonnenberg als Wintereinstand weitestgehend unterbunden. Die Naturverjüngung im Wald unterblieb als Folge der hohen Dichte des Rothirsches und der zusätzlichen Einengung seines Lebensraumes durch die Zäune unterblieb. So wurden beispielsweise die Keimlinge der Weißtanne (Abies alba) am Standort „Brugger Wald“ zwischen Glurns und Taufers im Münstertal jährlich fast vollständig gefressen. Im „Brugger Wald“ hat die Tanne im kontinentalen, inneralpinen Klima an einem Trockenstandort einen genetisch besonders wertvollen, weil trockenresistenten Klon entwickelt.
1995 wurde eine groß angelegte Erhebung der Verbiss-Schäden am Waldbestand innerhalb des Nationalparks durchgeführt. Zur Bewertung der Schäden am Waldbestand wurde der Verbiss der Endknospen und -triebe aller wichtigsten waldbildenden Nadel- und Laubholzarten herangezogen. Es zeigte sich, dass beispielsweise von den Jungbäumen der Fichte als Hauptbaumart bis zu 70% verbissen waren und einen Krüppel- oder Besenwuchs aufwiesen, aber keinen Schaft nach oben bildeten.
Schwächelnde Konstitution und Krankheiten
Wegen der hohen Dichten und der damit einhergehenden verschärften Nahrungskonkurrenz wurden die Hirsche im Nationalparkgebiet in ihrer Konstitution im Vergleich zu ihren Artgenossen im freien Jagdrevier außerhalb des Parkgebietes immer schwächer, wie der Vergleich der biometrischen Messparameter zeigte. Wildkrankheiten traten auf: 1997 stellten wir an einer Stichprobenbreite von 150 Abschüssen in Laboruntersuchungen post mortem fest, dass etwa im Martelltal ein Drittel der Hirschkälber an Paratuberkulose erkrankt oder Träger der Paratuberkulose waren.

Raumnutzung im Nationalpark
Im Nationalpark Stilfserjoch besetzt das Rotwild eine Fläche von 57.000 Hektaren, was 44% des gesamten Parkgebietes entspricht. Damit hat der Rothirsch in seiner derzeitigen Ausbreitung mehr oder weniger alle potentiell geeigneten Lebensräume besiedelt. Die hohen Berge verhindern einen, die Täler übergreifenden Austausch. Im Winter und damit in der nahrungsknappen Jahreszeit finden auf günstigeren, sonnenexponierten Arealen Konzentrationen von bis zu 25 Stück/km² statt.

Wissenschaftlich abgestützter Managementplan
Als Konsortium Nationalpark Stilfserjoch haben wir 1997 mit der Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Dokumentation begonnen, welche die Entwicklung des Rotwildbestandes im Langzeittrend mit ihren Folgen aufzeigen sollte. Mit Daten seit dem Jahr 1983 stand auch eine mehrjährige Zählreihe zur Verfügung. Nach drei Jahren (1997-99) der Erhebungen im Feld nicht nur zu Bestand und Dichte der Population, sondern auch zu ihrer Raumnutzung und nach Untersuchungen zum Gesundheitszustand von mehreren Hundert Tieren post mortem im Labor konnte der Nationalparkrat einen Managementplan für das Rotwild beschließen und dem Umweltministerium vorlegen. Der vorgelegte Mehrjahresplan sah ein mehrteiliges Maßnahmenpaket vor, das neben lebensraumverbessernden Eingriffen auch die Reduktion der Rotwilddichte durch herbstliche Abschüsse vorsah. Am Vinschgauer Nörderberg und in den Seitentälern als einer von neun Mikroregionen des Nationalparks sollte die hohe Dichte von 9,7 Stück Rotwild pro 1 km² auf 4-5 St./km² halbiert werden. Diese Dichte von 4-5 St./km² ist in der forstwirtschaftlichen Erfahrung und Fachliteratur als jene indiziert, bei der noch eine Naturverjüngung des Waldes stattfindet und damit die unverzichtbare Schutz- und Nutzfunktion des Bergwaldes mittel- und langfristig erhalten bleibt. Der vorgelegte Managementplan erhielt das fachlich positive Gutachten des nationalen wildbiologischen Institutes (ISPRA - Istituto Superiore per la Ricerca Ambientale ) als wissenschaftliche Referenzinstitut des Umweltministeriums.
Die Begründungen zu den Entnahmen
Wie schon ausgeführt, lässt das Staatsgesetz 394/1991 nur zwei Ausnahmen für einen Zugriff auf die Wildtiere in Nationalparken zu: Bei Krankheiten und Seuchen und wenn das Gleichgewicht zwischen der Anzahl einer bestimmten Tierart und dem ihr verfügbaren Lebensraum gestört ist.
Zurückkommend auf die Eingangsfrage, nachstehend die Begründungen zur selektiven Entnahme von Rotwild durch herbstliche Abschüsse im Einzelnen:
• Selektiver und massiver Verbiss der Triebe an jungen Waldbäumen mit der ökologisch schwerwiegenden Langzeitfolge von verlangsamter oder gänzlich unterbleibenden Waldverjüngung und Änderung in der Artenzusammensetzung der Schutz- und Nutzwälder;
• Selektive Veränderung der Krautschicht am Waldboden mit Verarmung in der Artenzusammensetzung der Vegetationsdecke und Trittschäden, besonders auf den Flächen der winterlichen Konzentration;
• Veränderung der Lebensräume und Brutgebiete von Auerhuhn und Birkhuhn als Raufußhühnerarten. Fehlende Wildbeeren wegen der abgefressenen Strauchschicht und vermindertes Angebot an Bodeninsekten (zur Eiweißernährung der Küken) vermindern den Brut- und Aufzuchterfolg der Raufußhühner;
• Abnahme des Reh-Bestandes wegen Nahrungskonkurrenz und Störung als konkurrenzschwächere Art vor allem im Winter bei sich überschneidenden Lebensräumen;
• Abnahme auch des Gams-Bestandes, wenn Rothirsche immer weiter in deren Lebensraum aufsteigen und im Sommer in den alpinen Rasen zu Nahrungskonkurrenten werden;
• Ertragsminderung und -entgang beim ersten Futterschnitt auf den Mähwiesen der bergbäuerlichen Kulturflächen, welche an sich schon Ungunstflächen oder Randlagen sind;
• Verlust an Weidegras auf den Früh- und Niederweiden der Almen mit Verzögerung der Frühjahrweide von Nutztieren;
• Fraß-, Verbiss- und Trittschäden in Sonderkulturen (Äpfel und Beerenfrüchte);
• Unfallrisiko und Schäden durch verstärkten nächtlichen Wildwechsel über Straßen und Zusammenstöße mit Autos.

Die Umsetzung
Zur Umsetzung des Managementplanes bedient sich die Nationalparkverwaltung bei den Abschüssen des eigenen Aufsichtspersonals aus dem Forstkorps und der lokalen Revierjäger. Das staatliche Rahmengesetz über die geschützten Gebiete lässt die Beteiligung von eigens dafür ausgebildeten Personen im Besitz des Waffenscheines und der Jägerprüfung zu, wenn diese Personen zusätzlich ausgebildet und mit den Zielen des Managementplanes vertraut gemacht werden. Die selektiven Entnahmen sind keine (Trophäen-)Jagd, sondern eine Regulierung der Population. Wenn man die Dichte einer Tierart reduzieren will, muss man vor allem auf deren weiblichen Populationsanteile zugreifen, um Trächtigkeit und Vermehrung einzugrenzen.

Erkenntnisse und Einschätzungen
Seit 1997 bis 2019 haben wir im Vinschgauer Parkanteil 7.512 Stück Rotwild durch Abschüsse entnommen. Seit wenigen Jahren werden auch Abschüsse in den Mikroregionen Hinterulten und Bormio Valfurva getätigt.
Ein Kernsatz der Ökologie ist jener, dass ein Ökosystem umso stabiler ist, je artenreicher es ist. Dabei ist wichtig, dass die Anzahl der Individuen einer Art nicht aus dem Lot geraten darf, weil dies zu Lasten der Biodiversität geht. Nach 20-jähriger Erfahrung mit den Managementplänen von Rotwild im Nationalpark erlaube ich mir, nachstehend ein paar Erkenntnisse aus meiner Sicht zusammenzufassen:
• Wenn eine große Tierart zahlenmäßig explodiert, dauert es zeitlich länger als erwartet, die erwünschte und ökologisch indizierte Dichte wieder zu erreichen: Die angestrebte Rotwilddichte von 4-5 St./100 ha konnte nicht, wie zu optimistisch eingeschätzt, mit einem ersten und einzigen Mehrjahresplan erreicht werden, sondern erst nach 20 Jahren. Um das Gleichgewicht zu erhalten, bleibt das „Abernten“ des Zuwachses weiterhin notwendig.
• Mit der Reduzierung der Dichte hat sich die körperliche Konstitution des Rotwildes verbessert. Die biometrischen Messparameter am erlegten Rotwild belegen steigende Körpergewichte, gute Konstitution und Fruchtbarkeit sowie Gesundung von Paratuberkulose.
• Der Bergwald erholt sich von den Verbiss-Schäden und kann seiner Nutz- und Schutzfunktion besser genügen.
• Die Schäden an den landwirtschaftlichen Kulturen sind auf ein wirtschaftlich und sozial verträgliches Maß eingegrenzt.
• Mit der Abnahme der Rotwilddichte erholt sich der Rehbestand. Auch für das Auerhuhn als Raufußhuhn ist die weniger stark verbissene Strauchschicht als Beerenlieferant in der Herbstnahrung förderlich.
• Die Beteiligung der und die Zusammenarbeit mit der lokalen Jägerschaft hat sich im Großen bewährt.
• Die Einschätzung und Hoffnung, dass der zurückgekehrte und in seinem Bestand wachsende Wolf als Regulator von Hirschen die Abschüsse durch den Menschen erübrigt, ist meines Erachtens zu optimistisch. Der Wolf wird sehr wohl zu einem größeren Zerstreuungseffekt der Rotwildpopulation in deren Lebensraumnutzung beitragen, nicht aber zu einer signifikanten Verminderung der Bestandsdichte des Rotwildes. Eine unkontrollierte Entwicklung des Wolfbestandes wird die Almbewirtschaftung gefährden. Die extensive sommerliche Bestoßung der Almen ist und bleibt ein wertvoller und wichtiger Beitrag zur Landschaftspflege und zum Erhalt der Biodiversität von Lebensräumen und pflanzlichen und tierischen Arten.



Text: Wolfgang Platter, 16. Jänner 2020

Events Wetter Webcams